Wir schreiben die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts: Wenige Jahre zuvor, genauer: 1895 hatte das Kino und damit ein neues Medium das Licht der Welt erblickt. Als Jahrmarktattraktion erstaunte es das Publikum in Europa und in den USA, wobei allein das Faszinosum des bewegten Bildes, des „lebenden Fotos“, ausreichte, um zu fesseln – ein Paradigmenwechsel in gewisser Weise. Filme, kurze Szenen aus dem Alltäglichen oder kleine, komödiantische Szenen, waren also in erster Linie „Gimmicks“, die nicht durch ihren Inhalt, sondern allein durch ihre Neuartigkeit interessierten.
Das alles sollte sich im Jahre 1902 ändern. Filme wurden im Laufe der Zeit immer ausgefallener, enthielten bald einfache Handlungen und skurrile Szenarien, bis der französische Zauberkünstler Georges Méliès, der seinen ersten Film schon 1896 drehte, mit „Die Reise zum Mond“ („Le Voyage dans la Lune“) das erste große Meisterwerk in diesem noch so jungen Medium schuf, das schon vor über hundert Jahren aufzeigte, wie unbegrenzt seine Möglichkeiten sind.
Die Handlung ist schnell erzählt. Es geht um einen Forscher, der sich, samt Gefolge, per Kanone auf den Mond schießt und dort allerlei wundersamen Dingen und Gestalten begegnet – Méliès verstand das Wesen dessen, was er hervorbrachte; nämlich, dass Film in erster Linie aus Bildern besteht, und die bestechen noch heute auf ungeheure Art und Weise. Auf der Bühne seines Théâtre Robert-Houdin entstanden schier unglaubliche Effekte, die wir der Kreativität Méliès‘ zu verdanken haben. Man merkt, dass der Macher des Films aus den Reihen der Zauberei stammt: aufwendige Bühnenbilder und -maschinerie, Kostüme, Blenden, Stopptricks, Pyrotechnik. Legendäre, zu Ikonen gewordene Bilder entstammen dem fünfzehnminütigen Streifen, wie zum Beispiel die Frau im Mond, in deren Auge die Mondrakete einschlägt.
All das nutzt man zum Effekt, und über allem liegt ein wunderbarer Hauch dieser omnipräsenten Naivität, der Neugierde – das in der reinen Abbildung der Realität verhaftete Kino wurde mit „Die Reise zum Mond“ zu einer anderen Welt, in die Georges Méliès, dieser erste Liebhaber des Films und Erkenner seiner Möglichkeiten, mit dem nötigen Pioniergeist vordrang, wobei er nicht nur den vermutlich ersten Science-Fiction-Film schuf, sondern auch in so ziemlich jeder anderen Hinsicht Maßstäbe setzte – nicht mehr der Film an sich, sondern die Welt, die er schuf, begeisterte.
Zwei Jahre später entstand in Amerika „Der große Eisenbahnraub“ und damit ein weiterer Genrebegründer. Von vielen irrtümlich als der erste narrative Film bezeichnet – niemand weiß mit Sicherheit, wem diese Ehre zuteil wird -, arbeitet sich „Der große Eisenbahnraub“ schon an so gut wie allen Gesichtspunkten dieses ureigenen amerikanischen Mythos ab. Eine Eisenbahn wird überfallen, was gleichbedeutend ist mit der Durchtrennung der Lebensadern der West-Pioniere. Die Rache folgt zugleich. Ein klassisches Westernelement; die ambivalente Natur der als rechtmäßige Handlung getarnten Selbstjustiz. Der Film von Edwin S. Porter, ein ehemaliger Kameramann der Edison-Studios, trägt eigentlich schon die wichtigsten Spannungselemente in sich. Schießereien, Verfolgungsjagden, Überfälle, Mord. Manche Szenen haben schon eine gewisse richtungsweisende Dynamik inne, wie z. B. auf dem Zug, oder das letzte Gefecht im Wald, das das Ende der Banditen bedeutet.
In den letzten ikonografischen Sekunden zerschießt der von Justus Barnes dargestellte Anführer der Räuber die vierte Wand. Eine radikalere Einläutung der Ära des Kinos hätte es damals nicht geben können – einer der ersten echten amerikanischen Filme.
Es verwundert nicht, dass es schwer ist, diese frühen Zeugnisse der Filmgeschichte nach bekannten Maßstäben zu beurteilen. Eine filmische Grammatik, Montage, geschweige denn abwechslungsreiche Kameraeinstellungen oder -bewegungen gab es schlicht und einfach noch nicht. In Totalen durchgehend gefilmte Handlungsblöcke wurden aneinandergereiht, das wirkt natürlich klobig. Wer aber Film verstehen und seine Anfänge kennenlernen will, für den wird es sich lohnen, diese frühen, waghalsigen (besonders ersteres) Werke zu entdecken.