Das Kino der ehemaligen Sowjetunion und ihren damaligen Satellitenstaaten war ein ganz besonderes und vielseitiges. Das fängt bei Visionären wie Sergei Eisenstein und Andrej Tarkowski an, die auch internationale Bekanntheit genießen, und hört bei Science Fiction-Epen auf, die bis heute in der westlichen Wahrnehmung kaum präsent sind. Eines hatten all diese Filme gemein: Es waren Filme abseits – für uns – gewohnter Erzählkonventionen mit einem Sinn für das Gigantische – selbst die ideologisch durchtränkten Propagandafilme („Panzerkreuzer Potemkin“) müssen bei formaler Betrachtung als die Grenzen der filmischen Mittel sprengende und erweiternde Meilensteine gelten. Marketa Lazarová passt ebenso gut in diese Beschreibung; der vielfach als der beste tschechische Film aller Zeiten bezeichnete 165-Minüter von 1967 liegt nun erstmals in Deutschland vor, und das in einer filmhistorisch hervorragend aufgearbeiteten Fassung.
Marketa Lazarová bezeichnet sich selbst als „Filmrhapsodie“, also eine in Bildern umgesetzte rhythmische Erzählung eines Dichters. Eine treffende Selbstbeschreibung. Da die in mehrere, durch Zwischentitel eingeleitete Kapitel gegliederte Erzählung sehr elliptisch und von kryptischen Dialogen begleitet stattfindet, ist es hier angebracht, zumindest das Skelett der „Handlung“ zu erläutern, sofern das überhaupt möglich ist: Im Böhmen des 13. Jahrhunderts streifen marodierende Räuberbanden durch die Landstriche. Eine davon besteht aus Kozlik, einem tyrannischen Patriarchen, und seinen Söhnen, welche zu Beginn einen Tross Reisender ausrauben und massakrieren; dabei nehmen sie einen jungen deutschen Adligen gefangen, was den böhmischen König veranlasst, eine Strafexpedition zu befehlen. Kozlik hofft auf die Mithilfe seines Nachbarn, des Freibauern Lazar, der sich jedoch weigert. Aus Rache entführen Kozliks Söhne Lazars Tochter Marketa. Es beginnt ein schlammiges, dreckiges Martyrium, eine Odyssee des Hasses durch das verschneite, trostlose Böhmen…
Marketa Lazarová fordert die Fähigkeit des „Filmlesens“ bis ins Unerträgliche. Die oben erläuterte Handlung lässt sich beim Sehen des Films kaum verstehen und nachvollziehen, denn dieses Epos schert sich nicht darum, Charaktere – selbst die marienähnliche Marketa – durch inszenatorische Mittel voneinander abzugrenzen, und unterbricht den „Fluss“ oftmals durch allegorische Einsprengsel, deren Bedeutung sich – wenn überhaupt – erst im Nachhinein erschließt; narrativ stellt uns Marketa Lazarová vor vollendete Tatsachen; vielmehr setzt Frantisek Vlácil spärlich auf assoziative Motivfelder – Falken, Wölfe, Schafe -, die zumindest ein Minimum an innerer Kontinuität garantieren. Doch auf all dies, auf dieses sehr westliche Verständnis von Begriffen wie „Plot“, „Narration“ et cetera, kommt es diesem schier wahnsinnigen Film nicht an.
Marketa Lazarová ist vielmehr ein Mythos. Ein hypnotischer Fiebertraum (man denkt an Filme wie „Es ist schwer, ein Gott zu sein“ und sogar an „The Revenant„) und filmgewordene Trance. Die schwarz-weißen Bilder, die komplett eigensinnig und – auf den ersten Blick – ohne durchgängiges Konzept ein elegisches Bild des Mittelalters malen, induzieren eine absolute meditative Kontemplation; die Bewegung der Figuren gleicht dabei immer einer Prozession und erinnert, so weit hergeholt das auch sein mag, an „Letztes Jahr in Marienbad“. Ein Gottesdienst, ein Trauerzug, ein Ritual unbekannter Klänge, das sich dem Betrachter verschließt, ihn aber nicht ausschließt, denn diese bewegten Gemälde extremer Kontraste sind für jedermann erfühlbar. Das schwarze Fell der Wölfe im Schnee, nur der Mensch und der Schlamm bringen Grau in diese Welt… Es muss dazugesagt werden, dass dieses Portrait einer archaischen Welt des Mittelalters nicht mit Ästhetisierung verwechselt werden muss, denn diese Bilder sind nicht da, um zu verklären, sie sind einfach.
Selbstverständlich ist Marketa Lazarová kaum erträglich, einschläfernd, langweilig, prätentiös, kryptisch, ja, einfach purer Sado-Masochismus, mag mancher sagen. Denn dieser Sehprozess ist ein Prozess des Wachsens, und wer sich vor diesen Bildern verschließt, kann nur bedauert werden; Marketa Lazarová ist einer solcher Filme, die uns dazu veranlassen, unsere bisherigen Sehgewohnheiten fundamental in Frage zu stellen.
Es ist Kino jenseits von Raum und Zeit.
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