Vor einem Monat veröffentlichte Netflix die Miniserie Midnight Mass. Für Regisseur Mike Flanagan ist dies bereits die dritte Miniserie, die er für den Streamingdienst schreiben, inszenieren und schneiden durfte. Doch diesmal handelt es sich nicht um eine weitere Spukgeschichte. Nein, Flanagan wagt es seinem Vorbild Stephen King die Stirn zu bieten und erzählt eine weitaus größere und tiefergehende Geschichte. Inwiefern ist ihm dieses Unterfangen gelungen?
Eigentlich sollte Monsignor Pruitt auf die Insel Crockett Island zu seiner kleinen Gemeinde zurückkehren, um sein Amt als Priester weiterhin fortzusetzen. Als Stellvertreter erscheint jedoch Father Paul, der von Pruitts Krankheitszustand berichtet und von seinem Aufenthalt in einem Krankenhaus auf dem Festland versichert. Zur selben Zeit kehrt Riley Flynn in die Gemeinde zurück, nachdem er eine Haftstrafe abgesessen und seinen Alkoholismus überwunden hat. Doch schon bald geschehen mysteriöse Dinge auf Crockett Island: Tiere sterben, medizinische Wunder passieren und Riley glaubt den alten Monsignor Pruitt nachts auf der Insel gesehen zu haben…
Mike Flanagan durfte sich bereits zwei Mal an Stephen King-Romane wagen, um sie zu verfilmen. Nicht nur die Netflix-Filmproduktion Das Spiel beruht auf eines von Kings Büchern. Selbstverständlich war auch die Shining-Fortsetzung Doctor Sleeps Erwachen eine Adaption von Kings Geschichten. Und obwohl die Struktur, die Atmosphäre, die intensive Mischung aus menschlichem Drama und übernatürlichem Horror und die kleinstädtische King-Kulisse á la Castle Rock oder Salem’s Lot auf eine ultimative King-Vorlage hindeutet, ist es eine Originalgeschichte von Flanagan selbst. Und diese darf sich mehr als sehen lassen.
Viele Themen finden Präsenz in dieser Miniserie, die aus sieben Episoden besteht. Darunter sind es vor allem die Themen Religion, Fanatismus, Tod und Erlösung. Dafür räumt Flanagan Platz frei für zahlreiche tiefgehende Monologe und diskussionsreiche Dialoge, die die Gefühls- und Wahrnehmungswelt der vielen, verschiedenen Figuren auf äußerst bewegende Weise offenlegt und erörtert. Dass einiges an Zeit und Geduld hierfür beansprucht wird, liegt ganz bestimmt nicht an einer Ausdehnung der Spielzeit, sondern an dem Interesse Flanagans für all die Fragen, die seine vielschichten Charaktere als schwerste Last mit sich tragen. Und währenddessen steigt das Mysterium, das so schleichend und subtil der Gemeinde, sowie dem Zuschauer selbst untergeschoben wird, dass die ersten greifbaren Erklärungen nach drei Episoden ebenso schockieren und begeistern, denn die Strukturen werden ab diesen Moment beeindruckender denn je.
HIER FOLGEN SPOILER: Es scheint, als hätte Flanagan die epochale Größe von Kings Brennen muss Salem mitsamt Der Nebel und vielen weiteren Werken des Horror-Autors zu einer gänzlich neuen, unschlagbaren Geschichte verbunden. Dass die Miniserie zunehmend an Brennen muss Salem erinnert, mag spätestens ab der vierten Episode nachvollziehbar sein. Mit einem geradezu studierten Geschick für die Einbettungen von Mythologien und sich aufbauenden, immer größer werdenden Entwicklungen zwischen allen Figuren lässt Flanagan die Miniserie in hochemotionale Momente münden, die in einem Moment eine unerträgliche Schwere an Tragik erhalten und in darauffolgenden Minuten zutiefst verstörende Inhalte haben. Ja, das ist nur schwer erträglich und absolute Härte. Damit sei vor allem das Finale der sechsten Episode gemeint, das mich persönlich an jegliche Grenzen getrieben hat und schwachen Gemütern keinesfalls zu empfehlen ist. Hier treffen suizidale Inhalte auf verstörenden Fanatismus ohne nur ein kleines Bisschen Rücksicht auf das Publikum zu nehmen. Und trotzdem verliert Flanagan nie die Kontrolle und behält das Drama, die Mythologie und seine Atmosphäre auf einem höchstkonzentrierten Qualitätsgrad, wie man es kaum bislang gesehen hat. SPOILER ENDE
Flanagan verlangt viel vom Zuschauer. Doch dafür gibt er tiefgehende Diskurse, einen makellosen Aufbau, eine grandiose Einbettung und neue Betrachtung der Mythologie, vielschichtige Charaktere, erschütterndes Drama, zahlreiche Momente niederschmetternder Emotionalität, höchstverstörenden Horror, fantastisches Schauspiel (an erster Stelle Hamish Linklater als Father Paul) und zahlreiche Erörterungen von Themen, deren Komplexität auf faszinierende Art und Weise in dieser Miniserie ihre gerechte Bühne finden.
Empfehlenswert für Halloween, weil keine Veröffentlichung aus diesem Jahr eine größere Bandbreite an Emotionen auslösen kann wie Mike Flanagans Miniserie auf Netflix. Ein noch nie dagewesenes Tribut an die Größe von Stephen Kings Geschichten. Würde man die Credits nicht lesen, könnte man fast behaupten, es handle sich um die beste King-Adaption aller Zeiten. Doch Flanagan hat das Unmögliche geschafft und eine Originalerzählung kreiert, die in ihrer Größe auf keinen Fall verpasst werden darf. Doch Vorsicht: Die siebenteilige Miniserie kann sowohl emotional aufwühlen, als auch zutiefst verstören!
Story & Regie: Mike Flanagan
Drehbuch: Mike Flanagan, James Flanagan, Elan Gale, Dani Parker, Jeff Howard
Produktion: Mike Flanagan, Trevor Macy, Jeff Howard
Darsteller: Zach Gildord, Kate Siegel, Hamish Linklater
Altersfreigabe: ungeprüft
Laufzeit: 448 Minuten
Episodenanzahl: 7
Verlöffentlichungsjahr: 2021
Budget: unbekannt
Alle Bildrechte obliegen dem Verleih ©Netflix.