Die Nächte werden kälter. Die Tage werden kürzer. Braun-orangener Laub sammelt sich auf den Bürgersteigen. Verschnupfte Nasen vermehren sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Alle Anzeichen sind da, um die diesjährigen 31 Days of Fright zu eröffnen. Auch in diesem Jahr haben wir wieder ein umfangreiches Programm erstellt, das die Vielfältigkeit des Horrorgenres ausgiebig zelebriert. Es werden wieder viele Klassiker und Geheimtipps ihren Weg zu den Frights finden. Doch bis dahin eröffnen wir unser ganz persönliches Fest mit einem brandneuen Vertreter des Genres, in dem es ebenfalls um ein Fest und das Kulturgut geht: Midsommar.
Erst letztes Jahr feierte Ari Aster mit seinem Debütfilm Hereditary weltweiten Erfolg. Leider können die Zahlen seines neusten Werkes nicht mit denen seines Vorgängers mithalten, dafür aber die Qualität im vollen Maße. Wie auch bei Hereditary erzählt Aster von einer labilen zwischenmenschlichen Beziehung, die sich von innen auffrisst und von außen vom höher stehenden Horror zusätzlich terrorisiert wird. Diese Grundprämisse macht Aster in Midsommar schnell klar – und das mit beeindruckenden Figurenzeichnungen und Dialogen.
Es dauert keine Viertel Stunde um klar zu sein, dass sich Asters Film von anderen modernen Horrorfilmen von Grund auf unterscheidet. Während wir gleich zu Beginn in ein finsteres Loch gezogen werden, das scheinbar noch nichts mit dem eigentlichen Horror zu tun hat, finden wir uns erst in den Opening Credits wieder und fragen uns voller Faszination, wie sich solch eine Klasse über die zweieinhalbstündige Laufzeit halten. Und somit fängt Midsommar bereits vielversprechend an, wo Szenenübergänge Choreographien und Charaktere lebensechte Individuen sind.
Im Verlauf des Filmes macht sich das gedrosselte Erzähltempo bemerkbar, doch nicht auf unangenehme Weise. Vielmehr kommt mit der Ruhe ein detaillierterer Blick mit Spaß an Spekulationen zu Stande, bei dem hin und wieder die üblichen Horrormechanismen außer Kraft gesetzt und konterkariert werden. Der Horror ist in diesem Zusammenhang provokant schleichend und bedient sich kaum an eruptiven Ausbrüchen. Noch dazu ist der Film überraschend humorvoll und sarkastisch, womit er der Ernsthaftigkeit nie im Wege steht. Stattdessen kann sie durch die lockeren, humanen Töne zwischendurch erst in größeren Zügen gesehen. Das passt perfekt zu der Hippie-Stimmung des Festivals, ohne dem Zuschauer ein Mal vergessen zu lassen, dass es sich immer noch um einen Horrorfilm handelt.
Das Seherlebnis und Verständnis gegenüber dem Horrorgenre wirkt hier gegenüber der modernen Plumpheit á la Es: Kapitel 2 wie aus einer anderen Zeit, in der die Geschichte viel mehr in den Fokus gerückt wird als der Zweck-Grusel. Das zweckmäßige Beängstigen ist viel mehr beiläufig durch den unkontrollierbaren Rauschzustand durch Pilze und Pflanzen, die dort traditionell konsumiert werden. Doch dazu führt uns Aster immer wieder zu der eigentlichen Handlung zurück: eine Beziehung, die schon längst hätte vorbei sein sollen, doch aus scheinbarer Rücksicht und narzisstischen Zügen künstlich am Leben gehalten wird. Und eben diesen Plot, in der Form, wie er eingeleitet, durchgeführt und zugespitzt wird, erzählt uns Aster schlichtweg makellos. Nicht zu vergessen, dass er dabei mit einer Handvoll Genres leichtgewichtig jongliert.
Wer mit das beste Horror-Highlight des Kinojahres sucht, wird bei Ari Asters Midsommar fündig. Wie kein anderer schafft er eine sonderbare, surreale Atmosphäre, die schlicht als psychologisch-luftig-hart-verstörend bezeichnet werden kann. Aster hatte sichtlich Spaß an der Visualisierungen von überspitzten, drastischen Ausmalungen von verstörenden, befremdlichen Riten und Sitten. Eine Zweitsichtung kommt jener Detailverliebtheit sicherlich entgegen, genauso wie der knapp dreistündige Extended Director’s Cut, den wir wohl im Heimkino genießen dürfen.
ANMERKUNG: Aster selbst bevorzugt keine der beiden Schnittfassungen. Ihr könnt euch also mit ruhigem Gewissen die Kinofassung ansehen.
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