Letztes Jahr thematisierten wir Ari Asters großartigen Midsommar. Dieses Jahr trauen wir uns an seine Inspirationsquelle heran, dem originalen The Wicker Man aus dem Jahr 1973 mit Christopher Lee in einer wichtigen Nebenrolle.
Sergeant Neil Howie bekommt einen anonymen Hinweis über das Verschwinden eines jungen Mädchens, was ihn zu einer abgelegenen Insel in Schottland führt. Dort findet er ein eingesessenes Volk auf, welches nichts von dem Mädchen und ihrem Verschwinden zu wissen scheint. Doch Howie hegt Zweifel an deren Unwissenheit und bleibt dem Hinweis auf der Spur. Nicht ohne Grund, denn die Dorfbewohner scheinen einem heidnischen Kult zu folgen, welcher überaus beunruhigend wirkt.
Der Krimi-Horror The Wicker Man musste leider eine unschöne Veröffentlichungsgeschichte durchstehen. Denn aufgrund des Misstrauens seitens der Produzenten entschied man sich den Film zu kürzen. Außerdem war er als zweiter Teil eines Double Features mit Wenn die Gondeln Trauer tragen geplant, womit The Wicker Man automatisch wie in den Schatten gestellt wirkt. Doch heute, über 45 Jahre nach dem Kinostart, gibt es den Sektenhorror zum Glück in einem der Urfassung sehr ähnlichen Final Cut zu sehen. Auf jene Fassung beruht meine Kritik.
Während das Geschehen des Filmes zu Beginn noch recht urig und altbackend wirkt, indem die singenden, feiernden Dorfbewohner innerhalb eines Pubs heitere Volkslieder anstimmen, entwickelt sich trotz jenes B-Movie-Flairs eine unangenehme Stimmung. Mit jener Unbehaglichkeit arbeitet Regisseur Robin Hardy die gesamte Laufzeit über und spart sich gezielt gesetzte Perversitäten auf, die sich im Laufe der Entwicklung sammeln. Dabei nutzt der Film besonders Themen wie Religion und Weltanschauung. Denn der Polizeibeamte Howie stellt sich früh als strenggläubiger Christ heraus, dem die abgeschottete Welt umso fremder vorkommt. Ständig werden Begriffe wie „unchristlich“ von ihm genutzt, um sein Unverständnis für die Lebensweise vor Ort kritisieren zu können. Diese Äußerungen sind seine einzigen Mittel zur Konfrontation, denn rechtlich betrachtet findet er nicht genug Mängel. Das macht The Wicker Man zu einer fanatischen Diskussion über Toleranz und Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft. Und doch spielt er währenddessen mit dem Zuschauer, der ebenfalls mit jener Welt konfrontiert wird und beide Fronten in Frage stellen soll.
Auch wenn sich The Wicker Manan einem langen Aufbau festhält, gelingt ihm eine bahnbrechende Zuspitzung in seiner letzten halben Stunde. Dort kommt es zu der einen oder anderen spannungsgeladenen Szene, die auch heute noch den gesamten Körper verkrampfen lässt. Dies funktioniert, wie so vieles im Laufe des Filmes, mit Gegenüberstellungen und Kontrasten – die Angst vor dem entreißenden Schock aus einer scheinbar heilvollen Grundstimmung. Es ist ein perfides Spiel, dem der Zuschauer hier ausgesetzt ist und dessen filmischer Abschluss einer kompromisslosen Abrechnung gleicht.
Empfehlenswert für Halloween, weil der altklassisch inszenierte Horror so schleichend daherkommt, dass es beinahe zu spät ist, wenn man ihn erstmal zu spüren bekommt. Ein Klassiker, der sich gerne Zeit lässt und den Zuschauer ebenso beobachtend im Dunkeln tappen lässt wie seinen Protagonisten. Nebenbei glänzt Christopher Lee in der Rolle des Lord Summerisle.
Regie: Robin Hardy
Drehbuch: Anthony Shaffer
Produktion: Peter Shnell
Darsteller: Edward Woodward, Christopher Lee, Britt Ekland
Altersfreigabe: ab 16 Jahren
Lauflänge: 91 Minuten
Budget: 500.000 GBP
Box-Office: 58.341 USD
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