Vor unvorstellbaren aber haargenauen 100 Jahren erschien der schwedische Stunmfilmklassiker Der Fuhrmann des Todes. Seine Bedeutsamkeit für das Medium Film ist unbestreitbar. Gleichermaßen ist es auch ein unverzichtbarer Horrorfilm, auch wenn er weitaus mehr ist als ein bloßer Gruselschocker.
Eine alte Folklore besagt, dass der jenige, der am Silvesterabend als letztes stirbt für ein ganzes Jahr die Kutsche des Todes fahren muss, um die Seelen der Verstorbenen aufzusammeln. Ausgerechnet in der Nacht zum Neujahr stirbt David Holm, der seinen Kutscher-Vorgänger sogar persönlich kennt: Ein Mann, der seinen Tod David Holm zuschreibt.
Regisseur und Drehbuchautor Victor Sjöström verfilmte die gleichnamige Novelle von Selma Lagerlöf infolge eines Vertrages, der ihm ermöglichte jedes Jahr eines von Lagerlöfs Werken zu verfilmen. Seine dritte Verfilmungen machten den ohnehin bereits erfolgreichen Regisseur zu einer Ikone des Mediums. Gleichermaßen spielt Sjöström die Hauptrolle in seinem Film, die mit großartiger Bravour von ihm verkörpert wird. Sein Status in der Filmwelt und gleichermaßen sein schauspielerisches Talent gaben ihm sogar seine ikonische letzte Rolle als Hauptdarsteller in Ingmar Bergmans Wilde Erdbeeren. Das ist kein großer Zufall, schaut man sich den unverwechselbaren Einfluss von Der Fuhrmann des Todes auf Bergmans Das siebente Siegel an. Nun ist Das siebente Siegel kein Horrorfilm und sicherlich nicht passend für Frights, auch wenn es ein zweifelloses Meisterwerk ist. Warum ist also Der Fuhrmann des Todes ein berechtigter Fright-Beitrag? Immerhin ähneln zwei Drittel des Filmes eher der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens als der Prämisse eines Gruselfilmes.
Nun, diese Antwort lässt folgendermaßen beantworten: Als allererstes hätten wir da die erste halbe Stunde des Filmes, die, um ganz klar auf den Punkt zu kommen, ein Fundament für das Horrorgenre bildet. Mit seinen schaurigen Bildern, der sich ankündigen Bedrohung und einer grundlegenden Düsternis ist der Film bereits in der Glut seines Schaffens. Eine Frau liegt im Sterben und verlangt in ihren letzten Momenten nach einem Mann, der nirgendwo auffindbar ist. Währenddessen sitzen drei zerzauste alte Männer auf Gräbern und erzählen sich abergläubische Geschichten vom Tod. Das beides wird so eindringlich verwoben, dass die erzeugte Atmsophäre mit diesen bloßen Mitteln große Freude bereiten. Im gleichen Zuge werden Tricktechniken, Gegenschnitte und Szenarien bildlich kreiert, die alles bisherige seiner Zeit in den Schatten stellt. Hier ist der Horrorfilm in seinen Kinderschuhen zu beobachten – doch damit ist es nicht genug.
Ein Jahr später erschien ein paar Landesgrenzen weiter der bereits in den Frights besprochene Nosferatu. Dieser setzt einen großen Wert auf seine Schauereffekte. Das macht Der Fuhrmann des Todes zwar auch, doch findet sich dieser damit nach einiger Zeit ab. Stattdessen lässt der Film ein tiefgehendes menschliches Drama entfalten, das den wahren Horror seiner Geschichte nicht im Übernatürlichen entstehen lässt, sondern in der Realität seiner Hauptfigur. Das wird alles so kalkuliert gesteigert, dass die emotionale Ergriffenheit des Filmes den Zuschauer geradezu überrascht. Das klingt nicht nur begeisternd – das ist es auch. Der Horror wird zwar nicht aktiv im Drama fortgesetzt, wie z.B. bei Hereditary oder Ekel, doch es die bedrückende Aussichtslosigkeit, die als dramatisches Spannungselement den anfänglichen Grusel in milden Zügen fortsetzt. Das alles ist Grund genug, um Der Fuhrmann des Todes ohne Zweifel in den 31 Days of Fright zu platzieren. Und selbstverständlich ist dieser Stummfilmklassiker noch viel größer als das.
Empfehlenswert für Halloween, weil das Fundament des anspruchsvollen Horrorfilms mit Inhalt und ernstzunehmendem Drama hier seinen ersten, wahrhaftigen Frühling feiern durfte. Großartige Visualsierungen und sein charaktervoller Hang zum Aberglauben machen diesen Stummfilm zu einen unverzichtbaren Genrebeitrag.
Drehbuch & Regie: Victor Sjöström (nach einer Novelle von Selma Lagerlöf)
Produktion: Charles Magnusson
Darsteller: Victor Sjöström, Hilda Borgström, Tore Svennberg
Altersfreigabe: ab 6
Laufzeit: 107 Minuten
Veröffentlichungsjahr: 1921
Budget: unbekannt
Box Office: unbekannt
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