Letztens wurde mir wieder einmal bewusst, dass Ben Affleck (der mit Live by Night den wahrscheinlich größten Flop des Jahres einstecken muss) zweifacher Oscar-Preisträger ist, und das kein einziges Mal als Schauspieler, sondern für das beste Drehbuch und den besten Film. Ja, dachte ich, das passt; Affleck scheint sich selbst mehr als Regisseur/Filmemacher zu verstehen – oder möchte als solcher verstanden werden -, denn als Schauspieler, und auch wenn seine vorletzte Arbeit, „The Town – Stadt ohne Gnade“, eher uninteressant ausfiel, war sie doch ein klarer Beweis für seine handwerklichen Fähigkeiten und hin und wieder durchscheinenden, verblüffend eigensinnigen Visionen. Ähnlich zwiespältige Gefühle evoziert der Schauspieler Affleck, dessen Spiel oftmals geradezu schmerzlich naiv ausfällt. Und dann gibt es wieder Momente, in denen in seinen Augen so unglaublich viel Wahrheit liegt, und Wahrheit ist oft genug purer Schmerz; alles ist ihm vergeben.
Anyway: Ist die Ambivalenz nicht gerade die Natur der interessantesten Filmschaffenden? Ja, nein. Warum wird der Mann nicht einfach Vollblut-Actionregisseur, wo er doch sicher einer der besten seines Faches wäre (oder bereits ist)? Nein, da steckt mehr dahinter, und überhaupt, warum mache ich mir so viele Gedanken zum (bedauerlicherweise) neuen Batman? Ich empfand plötzlich das unbändige Verlangen, Live by Night zu sehen. Nur wenig hatte man vom Film vernommen. Affleck hatte sich entnervt und resigniert über die geringe Beachtung durch Publikum und Kritik sowie die häufig negativen Stimmen geäußert, welche sich nur für seinen (geplanten und jetzt gescheiterten) „Batman“-Solofilm interessierten und dieses Herzensprojekt beiläufig abwatschten – bis dato spielte „Live…“ weltweit lediglich 21 Millionen Dollar ein, ein waschechter Flop, und daher musste man ihn wohl fast immer in leeren Kinosälen genießen.
Vom Autor Dennis Lehane, dessen Werke vielfach oft grandios verfilmt wurden („Mystic River“, „Shutter Island“, „Gone Baby Gone“ – ebenfalls von Affleck adaptiert), stammt auch die Vorlage für diesen Film, der Roman „In der Nacht“ als Teil einer Trilogie der amerikanischen Geschichte. Der erste Eindruck nach Beginn des Films: Blau, oh nein. So viel blau, viel zu sehr ist da die Orientierung an dieser generischen Blockbuster-Kühle, diesem einfallslosen Colorgrading, welches Affleck und sein Kameramann Robert Richardson – eine Legende und Tarantino-Stamm-DOP – nach und nach auflösen, zuerst mit vibrierenden „Roaring Twenties“-Stimmungen aus golden glitzernden Kleidern und Nachtstimmungen, später durch einen Wechsel des Handlungsortes, denn Live by Night verzichtet darauf, ein herkömmlicher urbaner Mobfilm zu sein und findet nach circa 15 Minuten in der tropisch angehauchten Welt Floridas statt – wunderschön, denn von dort an beginnt dieser Film zu leben, in jedem lichtdurchfluteten Bild.
Ben Affleck spielt mit dem Protagonisten Joe Coughlin erneut einen Iren, das Thema der Parallelwelt irischstämmiger Migranten in Amerika interessiert ihn und zieht sich durch sein Œuvre. Die Ähnlichkeit zu Scorsese und seinem Motiv der italo-amerikanischen Familie ist offensichtlich. Er lässt sich auf einen Handel mit der Cosa Nostra ein, um in den Rum-Handel Floridas zur Zeit der Prohibition einzusteigen und die Möglichkeit zur Rache zur erhalten, einmal mehr werden die klassischen Gangsterfilm-Tropen Rache und Erfolgsstreben verquickt und gelungen in den hitzigen Melting Pot der Karibik verlegt, den die grandiose (und oscarwürdige, aber hey…) Ausstattung und Kostümierung konstituieren.
Als kulturell-„ethnischer“ – er wird später eine Farbige heiraten – Außenseiter ist Coughlin eine distanziertere Perspektive möglich und Live by Night wird im Laufe der Zeit nicht nur zum astreinen Spannungs-Erzählkino, das wohlige Erinnerungen an ältere, große Filme weckt, sondern auch zum epischen Gesellschaftspanorama der USA samt all ihrer ethischen Widersprüche und Prüderien. Coughlin wird zur subversiven Kraft – seinen Alkoholhandel sieht er als eine Art des zivilen Ungehorsams gegen unsinnige Bevormundung -, zum Kritiker und Entlarver der Ideologien hinter der „Idee Amerika“ – als Schlüsselszenen stechen hier vor allem die Kreuzverbrennung durch den Ku Klux Klan und ein furioser Kurzmonolog Afflecks, ein purer Ausdruck humanistischer Wut, hervor. Rassismus und religiöser Wahn (gut: Elle Fanning als geläuterte Predigerin), die im Umfeld amerikanischer Werte gedeihen.
Live by Night ist nicht nur Kino, das sich den Mut zur Größe, zur Epik (im echten Sinn dieses inflationär benutzten Begriffes) bewahrt hat, sondern auch ein unglaublich wichtiger Film gerade in diesen Zeiten, als eben jene Werte Amerikas immer mehr zu hohlen Phrasen werden und von gewissen Politikern untergraben werden. Affleck stellt diese Werte klar, holt sie aus der postdemokratischen Verschwommenheit, vergisst seine Verantwortung als Erzähler aber nicht. Das Resultat: schon jetzt einige der schönsten Kinomomente des Jahres. Es ist ein sehr erwachsener, bewusster und klarer Film, und die Frage, ob Ben Affleck ein guter Regisseur sei (der seine Vorliebe für Schmalz-Enden aber dringend überwinden sollte), lässt sich guten Gewissens mit „Ja“ beantworten.
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