Michael Mann-Retrospektive #3
1986, fünf Jahre bevor Jonathan Demmes „Das Schweigen der Lämmer“ den Hype um die Figur des Hannibal Lecter lostrat und eine Art Paradigmenwechsel im Thrillergenre einläutete, hatte eben dieser Lecter seinen ersten – deutlich kleineren, recht wenig beachteten und heute weitgehend übersehenen – Leinwandauftritt in Michael Manns „Manhunter“. Dabei handelt es sich um die erste Verfilmung eines Werks aus Thomas Harris‘ Bestsellerreihe über den charismatisch-kannibalistischen Serienkiller, welcher in Manns Film und dem ihm zugrundeliegenden Roman „Roter Drache“ jedoch nicht im Fokus der Erzählung liegt; aufgrund dieser Tatsache und durch die überstrahlende Wirkung der deutlich erfolgreicheren Nachfolgefilme blieb „Manhunter“ ein selbst in Betrachtungen zu Manns Œuvre vielfach unterschlagener Film. Ein Umstand, der tragischer nicht sein könnte, handelt es sich bei „Manhunter“ doch zweifelsohne um einen der schönsten und reichhaltigsten Thriller der 80er Jahre und eine Art Manifest des frühen Ästheten Michael Mann.
Aus der Dunkelheit schälen sich – noch in der Stille – die einleitenden, gewöhnungsbedürftig grünen Buchstaben, die jäh von noch nicht ganz einzuordnenden Point-of-View-Shots unterbrochen werden; in die Stille hinein explodieren alptraumhafte Synthesizerklänge (diesmal nicht von Tangerine Dream) wie man sie angsteinflößender selten gehört hat. Man wähnt sich am Beginn eines Slashers, bis wieder die grünen Lettern übernehmen – lediglich der unfassbare Klangteppich bleibt. Dann: blauer Himmel, die Kamera senkt den Blick. Zwei Männer am Strand, welche nebeneinander auf einem Baumstamm sitzen, der eine mit dem Rücken, der andere mit dem Blick zum Meer. Schon jetzt scheint ihnen die Last des Schicksals auf den Schultern zu lasten. Welch ein Paukenschlag von Filmanfang. Aber mal langsam. Worum geht es hier eigentlich?
Bei den angesprochenen Männern handelt es sich um Will Graham (von nie erwarteter und wunderlicherweise nie gewürdigter Größe: William Petersen) und Jack Crawford (Dennis Farina). Crawford versucht den nach einer schweren Verletzung in Ruhestand getretenen Graham zu überzeugen, für einen letzten Fall in seine alte Berufung als genialer FBI-Profiler zurückzukehren. Kurz hadert er mit sich, ist er doch zum in der Strandidylle Floridas seinen verfrüht angebrochenen Lebensabend verbringenden Familienmenschen geworden, der mit der dunklen Welt der blutbesudelten Tatorte nichts mehr zu tun haben möchte. Trotz all dem – oder gerade deswegen – entscheidet er sich, Crawfords Bitte nachzukommen, nachdem er Fotos der dem Lustmörder zum Opfer gefallenen Familien sieht – und es dauert nicht lange, bis der sprichwörtliche Abgrund wieder seinen starren Blick auf ihn richtet.
Mit „Manhunter“ gelang Michael Mann 1986 sein bis dato formal stringentester und anregendster Film, den Dante Spinotti in sichtlich an der Ästhetik des Giallo orientierte Bilder tauchte und in dem sich eine kompositorisch wie lichttechnisch stimmungsvolle Einstellung voller Details an die nächste reiht. Dabei verzichtet Mann, obwohl es sich bei „Manhunter“ (vordergründig) um einen Thriller handelt, nicht auf die Erfüllung seiner ästhetischen Vorstellung und große cineastische Gesten, was diesen seinen dritten Spielfilm deutlich vom zuvor besprochenen „The Keep“ unterscheidet – das geht so weit, dass „Manhunter“ weniger zum auf den oberflächlichen Reiz des Suspense abzielenden Reißer wird (obwohl manches Bild gerade durch seine fehlende dramaturgische Vorbereitung eine gewisse Schockwirkung entfaltet) als vielmehr zum Dokument der cineastischen Konsolidierung des späteren Ästhetizisten Michael Mann. Mit unkonventionell gewichteten Kadrierungen und mit oft auf jegliche realistische Wiedergabe verzichtenden, satten Lichtstimmungen schafft Mann einen einzig und allein filmischen Raum, durchzogen von zahlreichen visuellen Reimen und Leitmotiven: Ermittlungsmethoden, Spiegel, die zerschlagen werden und tausendfach Bilder verzerren und reproduzieren, Hände an Scheiben, William Petersen, wie er sich in Millisekunden eine Zigarette nach der anderen anzündet und dessen Gesicht die unsichtbare Hand des Wahnsinns zu berühren scheint, der astronomische Wandschmuck des Antagonisten. Aus allen diesen Zeichen im Neonlicht, aus Manns Synthie-Stimmungen gerinnt „Manhunter“ zu einer Meditation über das Medium Film selbst; die in ihm dargestellte Welt findet im konservierten Bild letztlich ihren Anfang und ihr Ende.
„Manhunter“ ist der Film, dem wir Michael Manns kommendes Werk verdanken – und sein erstes Meisterwerk. Ein Thriller von im US-amerikanischen Film selten dagewesener stilistischer Willenskraft, der die dialektische Nähe, ja Verwandtschaft seiner Hauptfiguren – ein Mörder und ein wie ein Mörder Denkender – greifbar macht und uns subtilst im tiefsten Innern zu verunsichern weiß: Er lässt uns die Kälte durch den dünnen Mantel der Zivilisation hindurch spüren.
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