Platz 1: Heute oder morgen von Thomas Moritz Helm
Und hier, zu guter Letzt, der Blutsverwandte von Call Me By Your Name: Dieser erotische Coming of Age-Film ist ein gnadenloses Wunder. Gott sei Dank habe ich ihn auf der diesjährigen Berlinale in der Rubrik Perspektive Deutsches Kino entdeckt. Noch dazu kam nach der Vorstellung der Regisseur und Drehbuchautor Thomas Moritz Helm persönlich vor die Leinwand getreten, um über die Produktion zu sprechen. Gerne hätte ich ihn noch einmal im Kino gesehen, denn zum Glück bekam der Film dank Salzgeber & Co. Medien eine (wenn auch limitierte) Kinoauswertung im September. Doch nun bin ich immerhin stolzer Besitzer dieses Ausnahmewerks, das auf dem ersten Eindruck befürchten lasse, es handle sich um eine unbedeutende Nervenprobe des Berlin Flows/German Mumblecore á la Jakob Lass. Doch dem ist überhaupt nicht so: Zu sehen ist ein sexuell offen lebendes Berliner Pärchen, das mit einer britischen Studentin eine polygame Dreiecksbeziehung beginnt. Je länger der Sommer dauert, desto intensiver werden die Gefühle und die sich andeutenden Probleme. Doch Heute oder morgen (oder der noch viel passendere Vertriebstitel Before We Grow Old) vermeidet seine Ausbrüche. Er provoziert als Grenzgänger, womit er ebenso jeden Reiz auskostet. Noch dazu ist es der erste, wahre Berlinfilm, der den touristischen Blickwinkel mitsamt Technoclubs und Sehenswürdigkeiten komplett meidet. Viel wichtiger ist aber zu erwähnen, dass dieser cineastisch eingefangene Lebenszustand ein Gesamtbild erzielen möchte, das sich mit der allerletzten Szene erst schließt. Und dieses letzte, übrig bleibende Gefühl, welches ich im Detail nicht spoilern möchte, erzielt im vollen Maße jene Intensität, die sich der Film ganze 90 Minuten mühevoll aufgebaut hat. Zugegeben, mühevoll wirkt hier nichts bei diesen naturalistischen Dialogen, bei denen es undenkbar erscheint, dass jedes einzelne Wort in dieser Form geskriptet ist. Doch das ist es, laut Helm. Und übrig bleibt eine Ballung von den sehnsüchtigsten Sommergefühlen, die ein Coming of Age-Liebhaber wie ich ertragen kann. Oder um es mit anderen Worten zusammenzufassen: Wer diesen Film nicht fühlt, lebt nicht in dem orientierungslosen Wahnsinn unserer Gegenwart.