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Die 10 besten Filme aus 2020 | Robin

von Robin Längert

Ja, dieses Jahr musste das Kino sehr leiden. Das Leiden wird auch noch bis ins nächste Jahr reichen, doch vergnügen wir uns lieber mit einem wohlgesonnenen Jahresrückblick und besprechen traditionell die Top 10. Meine Filmauswahl hätte auch für eine Kinojahres-Hitliste gereicht, doch gab es auf den Streamingplattformen die ein oder andere Direktveröffentlichung, auf die ich beim besten Willen nicht verzichten wollte. Also Achtung: Nur sechs der zehn Plätze hatten einen offiziellen deutschen Kinostart in diesem Jahr. Zwei Filme werden definitiv nicht ins Kino kommen, da ihre Rechte bei einem der Streamer liegen. Zwei weitere Filme (neben Platz 3) hatte ich auf der Berlinale 2020 gesehen: Einer der Filme (Platz 5) soll nächstes Jahr im deutschen Kino erscheinen, doch ehe es wieder zu Verschiebungen oder Absagen kommt, nehme ich das Goldstück lieber jetzt in meiner Topliste auf. Der andere Film (Platz 7) hat noch keinen deutschen Verleih gefunden.

Platz 10: Über die Unendlichkeit von Roy Andersson

Mein erster Roy Andersson-Film. In Form von bewegenden Porträts hält Andersson viele verschiedene, unabhängige Lebenszustände fest. Nur wenige Figuren und Handlungen treten mehrmals auf. Vielmehr bleibt von der Mehrheit nur ein kurzer Einblick übrig, der einen Hang zur Tragik, Melancholie oder Entfremdung beinhaltet. Alle Bildeinstellungen und Momentaufnahmen erzählen jedoch von der Distanz. Einer Distanz zur Gesellschaft, zur Moral, zu seiner Familie und seinen Geliebten, zur eigenen Lebensphilosophie, zu sich selbst. Die Erzählart ist gewöhnungsbedürftig, doch braucht nicht länger als 20 Minuten, um sich vollends entfalten zu können. Andersson zeigt uns, dass sich Momente wie die Ewigkeit anfühlen können und ebenso für die Ewigkeit sind. Und dass Kunst (hier stellvertretend für Film und Gemälde) Unendlichkeit bedeutet.

©Neue Visionen

Platz 9: Auf der Couch in Tunis von Manele Labidi

Gute Wohlfühlfilme werden auf dem Filmmarkt oft vergebens gesucht. Die projizierte heile Welt wirkt oftmals zu künstlich und unglaubwürdig. Die französisch-tunesische Koproduktion tut sich jedoch nicht so schwer: Die Psychologin Selma versucht ihr Glück in ihrer zweiten Heimat Tunesien und eröffnet dort eine eigene Praxis. Es ist äußerst besänftigend, wie leichtfüßig die Komödie zu unterhalten weiß und sich mit ihren Konflikten, der Akzeptanz und Kritik moderner Wissenschaft, sympathisch und gutherzig auseinandersetzt. Es ist ebenso ein moderner Heimatfilm, der die kulturelle Entfremdung Selmas keineswegs scharf kritisiert, sondern als Ausgangspunkt für eine bezaubernde Neuentdeckung nutzt.

©Prokino

Platz 8: Kokon von Leonie Krippendorf

Die 14-jährige Nora lebt am Berliner Kotti, wo sie während eines Sommers eine pubertäre Findungsphase durchlebt. In Romy, einem aufgeschlossenen, etwas älterem Mädchen, findet sie ihre erste, große Liebe und lässt sich gänzlich auf sie ein. Regisseurin Krippendorf zeichnet einen warmen, romantisierten Sommer in wunderschönen Farben und Momentaufnahmen. Dabei lässt sie nur jene Gefühle und Betrachtungsweisen zu, die die Protagonistin selbst erleben kann. Wie es sich bei einem gelungenen Coming of Age-Film gehört, bleiben wir auf Augenhöhe und fühlen mit Nora zusammen die Unsicherheit, Eifersucht, Verlegenheit und Schmetterlinge im Bauch, als wären wir selbst wieder Teenager. Ein gänzlich einhüllender Film, der sich perfekte in der Reihe von Call Me By Your Name und Heute oder morgen platziert.

©Salzgeber

Platz 7: Eyimofe (oder: This Is My Desire) von Arie & Chuko Esiri

Mit ihrem Debütfilm feierten die nigerianischen Regisseure Arie und Chuko Esiri auf der diesjährigen Berlinale Weltpremiere. Das in 16mm gefilmte Drama erzählt mit einem Chunking Express-ähnlichen Konstrukt die Geschichten zweier Menschen, die die Sehnsucht nach einem besseren Leben haben. Die Regie-Brüder folgen ihren Figuren innerhalb der beiden Kapitel „Spanien“ und „Italien“ mit einer feinfühligen Geduld und gewähren einen durchbohrenden Einblick in die trügende Hoffnung, Europa verspreche ein besseres Leben als in Nigeria. Die lebensechten Charaktere, der überzeugende Cast und die wundervolle Kinematographie lassen die kalkulierte Erzählart zu einem bewegenden, nachdenklichen Filmerlebnis erheben.

©Kimiera

Platz 6: A Hidden Life (oder: Ein verborgenes Leben) von Terrence Malick

Nach zwei beeindruckenden (To the Wonder, Song to Song) und einem schwachen (Knight of Cups) Essayfilm bedient sich Malick wieder einem Drehbuch als Grundlange für seinen Film. Nach wie vor bleibt sich der Ausnahmeregisseur seinem spirituellen Stil treu und entführt ins in die meditative Stille Österreichs, zwischen Bergen und Feldern. Sein Historiendrama handelt über Opposition und der eigenen Überzeugung von Moral und Ethik. Es ist ein schwelgerischer Film. Knapp drei Stunden dauert sein Drama, doch möchte man keine Sekunde davon vermissen. Es ist ein Film fürs Kino und für die ganz große Leinwand, der darauf wartet erfahrbar zu werden. Wie schon in Der schmale Grat beharrt Malick auf die Ruhepunkte in Zeiten, die keine innere Ruhe zulassen. Das ist wunderschön, atemberaubend und verstörend zugleich. Malick in Höchstform.

©Pandora Film

Platz 5: Hoffnung (oder: Hope) von Maria Sødahl

Ein Tag vor Weihnachten wird bei Anja ein lebensgefährlicher Hirntumor entdeckt. Die ohnehin bereits bröckelnde Ehe zu ihrem Ehemann und dem Vater ihrer Kinder steht auf Messers Schneide. Das norwegisch-schwedische Filmdrama ist atmosphärisches Schauspielkino par excellence. Andrea Bræin Hovig und Stellan Skarsgård sind grandios eingespielt und verkörpern den Trotz, die Restreserven und die emotionale Abhängigkeit einer alteingesessenen, verfallenden Liebe mit einer ungeheuren Intensität. Das ist hoch qualitatives, nordeuropäisches Kino, wie man es kennt und liebt – mit einem Gänsehaut-bereitendem, ausdrucksstarkem Schlussbild. Ich habe ihn auf der diesjährigen Berlinale gesehen und kann nur hoffen, dass sein geplanter deutscher Kinostart für 2021 standhaft bleiben wird.

©Arsenal Filmverleih

Platz 4: Queen & Slim von Melina Matsoukas

Was als unbedeutendes Tinder-Date anfängt, entwickelt sich schnell zu einer albtraumhaften Flucht, wie sie Franz Kafka nicht besser hätte emotionalisieren können. Queen und Slim fliehen vor der Polizei nach einer eskalierenden Polizeikontrolle, bei der Slim einen Polizisten erschießt. Die Schlinge schnürt sich langsam zu und auf dem aussichtslosen Weg in eine bessere Zukunft zeichnet sich ein polarisiertes, wütendes Amerika ab, das zerrissen und gewaltbereit ist. Mittendrin sind Queen und Slim, die wie eine Prophezeiung für den März 2020 als Symbolfiguren einer ganzen Bewegung stehen. Mitsamt eines grandiosen Soundtracks trifft Kino auf Realität und verschmelzt zu einem bitterbösem Kunstbild, das sich so nah wie möglich den strukturellen Problemen unserer selbstlobenden westlichen Welt nähert.

©Universal Pictures

Platz 3: Mignonnes (oder: Cuties) von Maïmouna Doucouré

Regisseurin Doucouré hat den stolzen Mut und zeigt uns zwölfjährige Mädchen von heute, ohne ihnen ein Blatt vor den Mund zu legen. Mignonnes zeigt uns ein Generationsbild, in dem Social Media längst zum Standard gehört und das Selbstwertgefühl angehender Teenager*innen beeinflusst. Um dem Konflikt und der Diskussion mehr Umfang geben zu können, handelt der Coming of Age-Film gleichermaßen um kulturelle Differenzen – konservativ gegen modern. Dabei wollen die Mädchen nur ihren Vorbildern aus Musikvideos nacheifern und tanzen kichernd sexualisierte Posen nach. Wie es sich nach der Netflix-Veröffentlichung herausgestellt hat, scheinen sich viele Zuschauer einer Kontextualisierung schwerzufallen. Dabei ist es offensichtlich, dass Doucouré die Kinder so inszeniert, wie sie sich selbst betrachten und verweigert sich einem herablassenden Blick. Das ist nicht nur beeindruckend, sondern auch zutiefst einfühlsam, wenn das Publikum der Protagonistin auf Augenhohe begegnet und Teil ihres Horizontes und ihrer naiven Gefühlswelt wird. Ein besonderer und konsequenter Film, dessen Shitstorm viel über die mangelnde Fähigkeit zu Perspektivwechseln aussagt.

©Netflix

Platz 2: Exil von Visar Morina

Dunkelgelb beleuchtete Gänge begleiten dem Pharmaingenieur Xhafer in seinem Alltag. Sei es Zuhause oder auf Arbeit, die schattenreiche Farbgebung ändert sich nur minimal. Es scheint, als wäre sie sein stiller Begleiter, wie ein angeketteter Dämon an dem Leib seines Opfers. Man darf den subtilen Thriller von Morina gerne als „deutschen Get Out“ bezeichnen, denn seine Angst vor falschen Gesichtern und abwertenden Gedanken seines Umfeldes sind stetig präsent. Xhafar, grandios gespielt von Mišel Matičević, kommt aus dem Kosovo und verfällt zunehmend psychotischen Wahrnehmung, denn seine Arbeitskollegen scheinen ihn zu diskriminieren. Doch sind jene Anzeichen dafür so still, leise und unscheinbar, dass es sich fast so anfühlt, als fänden sie nur in seinem Kopf statt. Na klar, warum sollte die privilegierte Mehrheit ein Gespür für Diskriminierung haben, wenn sie es selbst nicht aus ihrem Alltag kennen? Exil ist anstrengend, verletzend und ungeheuerlich atmosphärisch. Ein solch kafkaeskes Meisterwerk hat die deutsche Filmlandschaft noch nie hervorgebracht. Komplizen Film ist und bleibt eine sichere Adresse für hochwertige Filmkost!

©Alamode Film

Platz 1: Uncut Gems (oder: Der schwarze Diamant) von Josh & Benny Safdie

Nachdem ich bei ihrem letzten Film Good Time im Kino beinahe gestorben bin vor Spannung, konnte ich es kaum erwarten, als ihr nächster Film Uncut Gems mit Adam Sandler in der Hauptrolle angekündigt wurde. Riesige Lobeshymnen häuften sich, doch ein deutscher Kinostart blieb aus. Dann, die große Enttäuschung: Netflix hat sich die Vertriebsrechte eingeholt. Schock. Einen Safdie-Brüder-Film muss man im Kino sehen. Das hatte ich nach Good Time mehr als genug verstanden. Doch konnte ich leider nichts an der Situation ändern und musste ihn mir Zuhause auf dem Fernseher ansehen. Und was ich dort gesehen habe, war ein Monstrum von Film. So bildgewaltig, kinetisch und getrieben, dass mir die Kinnlade heruntergefallen ist. All der Stress, der Druck, die permanente Angst vor dem Existenzverlust sind dermaßen physisch erfahrbar, dass es sich rein inszenatorisch bereits um einen der besten Filme der letzten Jahre handelt. Der Rausch des Kapitals, der Spekulation ist in einem einzigen Wahn aus Gier und Selbstsucht festgehalten. Die Börse und all ihre Broker, die hier für die Weltwirtschaft stehen, werden mit Sandlers Charakter als bloße Wettsüchtige dargestellt. Rohstoffe werden von woanders hergeholt und im Börsenzentrum zu utopischen Preisen hochgehandelt, von deren Summen die hartarbeitenden Menschen im Bergbau keinen Cent abbekommen. Darum bekommt die Ausgrabung des Diamanten kaum Screentime, denn jene Orte und Arbeiten finden in der Globalisierung spätestens dann keine Beachtung mehr, wenn die Ware zwischen wohlhabenden Menschen verhandelt werden kann. Uncut Gems ist ein so großer Film, dass er kaum greifbar ist mit nur ein paar Gedanken. Form und Inhalt tanzen einen Teufelstanz und zelebrieren zugleich die Kraft und Intensität des Kinos, wie es sonst nur Meilensteine der Filmgeschichte konnten. Und auf keinen Fall darf Sandlers Performance unerwähnt bleiben, der unbestreitbar die beste schauspielerische Leistung seiner Karriere bietet (obwohl er bereits in Punch-Drunk Love herausragend war). Ebenso wenig darf die Kameraarbeit von Darius Khondji und der Soundtrack von Daniel Lopatin vergessen werden, die Hand in Hand die Dynamik des Filmes in die Höhe peitschen. Am Ende zelebrieren sich die Safdie-Brüder sogar selbst, indem sie die End Credits mit der Radio Edit vom Eurodance-Technosong „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino einleiten, als wären sie die größten Rockstars. Denn das sind sie.

©Netflix

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